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Entscheidungstext 2Ob180/21s

Gericht

OGH

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Rechtsgebiet

Zivilrecht

Fundstelle

Zak 2022/133 S 78 - Zak 2022,78 = Zak 2023/334 S 184 (Kolmasch, Judikaturübersicht) - Zak 2023,184 (Kolmasch, Judikaturübersicht)

Geschäftszahl

2Ob180/21s

Entscheidungsdatum

14.12.2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Veith als Vorsitzenden sowie den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. K*, vertreten durch Dr. Alexander Bosio, Rechtsanwalt in Zell am See, gegen die beklagten Parteien 1. M* E*, und 2. E* E*, beide vertreten durch Kinberger-Schuberth-Fischer Rechtsanwälte-GmbH in Zell am See, wegen 21.376,95 EUR sA und Feststellung (Streitwert: 10.000 EUR), über die Revisionen der klagenden und der zweitbeklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 6. August 2021, GZ 53 R 110/21i-23, womit das Teil- und Teilzwischenurteil des Bezirksgerichts Zell am See vom 6. April 2021, GZ 18 C 892/20z-17, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

         Die Revisionen der klagenden und der zweitbeklagten Partei werden zurückgewiesen.

         Die klagende Partei ist schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten ihrer Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Die klagende Partei hat dagegen die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung:

[1]            Am 23. 5. 2020 ereignete sich auf einer im Freiland gelegenen, über die Salzach führenden Brücke ein Verkehrsunfall, an welchem der Kläger als Radfahrer und der damals rund viereinhalb Jahre alte Sohn der Beklagten beteiligt waren.

[2]            Die über die Brücke führende 5,4 m breite Fahrbahn ist wenig befahren. Sie verläuft in Annäherungsrichtung des Klägers geradlinig und – zumindest auf den letzten 100 m vor der Unfallstelle – ohne Sichtbehinderung. Aus dieser Richtung gesehen fließt die Salzach von links nach rechts unter der Brücke durch. Unmittelbar links neben der Brücke befinden sich im Fluss kleine Stromschnellen, die von Surfern genutzt werden. Ein Gehsteig ist auf der Brücke nicht vorhanden. Das Brückengeländer ist auf beiden Seiten durch Längsstreben mit einem ca 15 bis 20 cm hohen Betonsockel verbunden, der ca 25 cm zur Fahrbahn hin ragt.

[3]            Am Unfallstag war die Zweitbeklagte mit dem später unfallbeteiligten Sohn und dessen rund zehn Jahre alten Bruder sowie seiner etwa sieben Jahre alten Cousine mit den Fahrrädern unterwegs. An der Brücke angekommen wollten die Kinder die Flusssurfer beobachten. Beim Hingehen machte die Zweitbeklagte ihren kleineren Sohn darauf aufmerksam, dass er nicht über die Straße laufen solle. Die Zweitbeklagte und die Kinder positionierten sich sodann am – in Fahrtrichtung des Klägers betrachtet – linken Brückengeländer, wobei zunächst der ältere Sohn und rechts daneben seine Cousine standen. Rechts davon war eines der Fahrräder an das Brückengeländer angelehnt und weiter rechts stand der kleinere Sohn, direkt gefolgt von der Zweitbeklagten, die ihn dabei nicht festhielt. Der kleinere Sohn ist ein eher ruhiges und folgsames Kind. Es gab bis zum Unfall keine Situation, in der er im Straßenverkehr plötzlich weggelaufen wäre. Er stand auf dem kleinen Betonsockel und hielt sich an den Längsstreben des Brückengeländers fest.

[4]       Der Kläger näherte sich der Brücke mit einer nicht mehr feststellbaren Geschwindigkeit, wobei er auf der Brücke an beiden Geländern Personen wahrnahm. An der Brücke angekommen hielt er vom rechten Fahrbahnrand einen Abstand von 1 bis 1,4 m ein. Seine Geschwindigkeit unmittelbar vor der Kollision betrug 15 bis 20 km/h.

[5]            Als einer der Flusssurfer stürzte und von der Salzach unter der Brücke durchgetrieben wurde, lief der kleinere Sohn der Beklagten unvermittelt schräg nach links hinten los zur anderen Seite der Brücke, wodurch es ungefähr in der Mitte der Brücke zur Kollision mit dem vorderen Laufrad des Klägers kam. Ob der Kläger vor der Kollision noch gebremst hat, konnte nicht festgestellt werden. Die Zweitbeklagte schaute ihrem Sohn nach, als er loslief. Erst in diesem Zeitpunkt sah die Zweitbeklagte im Augenwinkel den Kläger mit seinem Fahrrad herannahen. Sie konnte das Kind nicht mehr ergreifen. Bei der Kollision stürzte der Kläger und zog sich Verletzungen zu.

[6]            Der Unfall wäre verhindert worden, wenn die Zweitbeklagte – beispielsweise indem sie ihren Sohn an der Hand gehalten oder sich hinter ihn gestellt hätte – dafür Sorge getragen hätte, dass er nicht über die Fahrbahn laufen kann. Der Kläger hatte bei der von ihm eingehaltenen Geschwindigkeit keine Möglichkeit, unfallvermeidend zu reagieren. Hätte er aber in Annäherung an die für ihn erkennbar auf der Brücke stehenden kleinen Kinder seine Geschwindigkeit auf 5 bis 6 km/h reduziert, hätte er das Unfallgeschehen vermeiden können.

[7]            Das Erstgericht wies mit Teil- und Teilzwischenurteil das auf die Verletzung der Aufsichtspflicht gestützte Schadenersatzbegehren des Klägers gegenüber dem Erstbeklagten (insoweit unbekämpft und daher rechtskräftig) ab und teilte das Verschulden zwischen dem Kläger und der Zweitbeklagten im Verhältnis 1 : 2.

[8]            Das Berufungsgericht betätigte diese von beiden Seiten bekämpfte Entscheidung.

[9]            Die ordentliche Revision sei zulässig, weil angesichts der Rechtsprechung zur Aufsichtspflicht iSd Paragraph 1309, ABGB der vom Berufungsgericht herangezogene Sorgfaltsmaßstab zu streng sein könnte, und umgekehrt beim Mitverschulden des Klägers die Ansicht vertreten werden könne, dass mit dem Rücken zur Fahrbahn stehende Kinder noch keine Verpflichtung auslösen könnten, nur mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren. Da sich vergleichbare Situationen im täglichen Leben nicht selten ergäben, komme der Entscheidung erhebliche Bedeutung über den Einzelfall hinaus zu.

[10]           Dagegen richten sich die Revisionen des Klägers und der Zweitbeklagten. Der Kläger beantragt erkennbar die Abänderung des angefochtenen Urteils im Sinne einer gänzlichen Stattgebung des gegen die Zweitbeklagte gerichteten Leistungsbegehrens dem Grunde nach. Die Zweitbeklagte möchte eine Klagsabweisung erreichen und beantragt in eventu, ihr Verschulden mit nur einem Drittel zu bewerten.

[11]           Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, der Revision der Zweitbeklagten nicht Folge zu geben, die Zweitbeklagte, jene des Klägers zurückzuweisen und hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

[12]                     Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (Paragraph 508 a, Absatz eins, ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts sind die Revisionen nicht zulässig. Die Entscheidung hängt nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd Paragraph 502, Absatz eins, ZPO ab:

[13]     1. Beide Revisionen wenden sich nicht gegen die grundsätzliche – bereits vom Erstgericht wiedergegebene – Rechtsprechung. Sie machen jeweils nur eine unrichtige Anwendung im Einzelfall geltend:

[14]           2. Soweit sich der Kläger darauf beruft, dass die Einhaltung von Schrittgeschwindigkeit nicht erforderlich gewesen sei, ist er auf die Feststellung zu verweisen, dass ihm die auf der Brücke am Fahrbahnrand befindlichen Kinder erkennbar waren.

[15]           Auf ein verkehrsgerechtes Verhalten von Kindern, und zwar selbst von kleineren Schulkindern, darf aber kein Verkehrsteilnehmer vertrauen. Bei Annäherung an auf dem Straßenrand gehende Kinder muss die Geschwindigkeit nahe an Schritttempo herabgesetzt und in ständiger Bremsbereitschaft gefahren werden (RS0074002). Dieser Schutz von Kindern im Straßenverkehr gründet sich im Wesentlichen auf die in Paragraph 3, StVO verankerte Ausnahme der Kinder vom Vertrauensgrundsatz. Aus der Bestimmung des Paragraph 20, Absatz eins, StVO ergibt sich im Zusammenhalt mit Paragraph 3, StVO die Verpflichtung eines Fahrzeuglenkers, bei Wahrnehmung von Kindern am Straßenrand die Geschwindigkeit so weit zu vermindern, dass er bei einem allfälligen Versuch der Kinder, die Straße zu überqueren, einen Unfall verhindern kann (RS0074048).

[16]           Zwar kommt die Nichtanwendung des Vertrauensgrundsatzes auf Kinder gemäß Paragraph 3, StVO nur dann in Betracht, wenn nach den Umständen mit der Benützung der Fahrbahn durch Kinder zu rechnen ist (RS0074009). Bei Kindern im vorschulpflichtigen Alter, die sich auf der Fahrbahn aufhalten, muss iSd Paragraph 3, StVO aber stets mit einem verkehrswidrigen Verhalten gerechnet werden; die allgemeine Erfahrung im Straßenverkehr zeigt, dass es durchaus nicht ungewöhnlich ist, wenn solche Kinder im letzten Augenblick vor einem herannahenden Fahrzeug über die Straße laufen (RS0074064). Der Vertrauensgrundsatz findet Kindern gegenüber auch dann keine Anwendung, wenn sich Erwachsene in ihrer Nähe befinden (RS0074098).

[17]           3. Wenn die Vorinstanzen daher hier angesichts eines für den Kläger erkennbar am linksseitigen Fahrbahnrand neben weiteren Kindern auf der Brücke stehenden, seine Aufmerksamkeit nicht der Fahrbahn zuwendenden kleinen Kindes und der sichtbar auch am anderen Fahrbahnrand auf der Brücke befindlichen weiteren Personen – unabhängig davon, ob er den Gegenstand ihrer Beobachtung erkennen konnte – zu dem Ergebnis kamen, dass der Kläger seine Geschwindigkeit auf zumindest nahe Schrittgeschwindigkeit hätte verringern müssen und ihm deshalb ein Mitverschulden anlasteten, entspricht dies der Rechtslage.

[18]           4. Gegenteiliges ergibt sich auch nicht aus der im Rechtsmittel des Klägers zitierten Judikatur: Dass nach der Entscheidung 8 Ob 54/87 bei Erntearbeiten mit Traktoren in einem Maisfeld nicht mit dem Auftauchen anderer Personen zu rechnen ist, auch wenn es in der Gegend eine neugierige nicht voll zurechnungsfähige Person gibt, die umherzustreifen pflegt, vermag schon angesichts des völlig anders gelagerten Sachverhalts an dieser Beurteilung ebenso wenig zu ändern, wie die ebenfalls zum Entlastungsbeweis nach Paragraph 9, Absatz 2, EKHG ergangenen Entscheidungen 8 Ob 12/83 und 2 Ob 157/06m, die jeweils am Gehsteig an der Hand geführte Kleinkinder betrafen, die sich – anders als im vorliegenden Fall – plötzlich von der Hand einer Aufsichtsperson losrissen und – von rechts kommend – dem Kraftfahrzeuglenker keine Reaktionsmöglichkeit ließen.

[19]           5. Zur Revision der Zweitbeklagten ist auszuführen, dass zwar nach 2 Ob 124/64 = RS0027656 [T1] eine ständige Beobachtung auch von Kindern im Alter von vier Jahren nicht verlangt werden kann. Allerdings enthält diese Entscheidung auch den Hinweis, dass grundsätzlich an die Erfüllung der elterlichen Aufsichtspflicht strenge Anforderungen zu stellen sind und insbesondere bloße Verbote nicht genügen, sondern eine ausreichende und zumutbare Überwachung des Kindes hinzutreten muss. Nach der von der Zweitbeklagten ebenfalls zitierten Entscheidung 2 Ob 110/98k trifft der Rechtssatz, dass eine ständige Beobachtung nicht verlangt werden kann, vor allem auf größere Kinder zu, weil gerade Kleinkinder zu unüberlegten Spontanreaktionen neigen, was jedenfalls eine ständige Beaufsichtigung in ungewohnter Umgebung erfordert (RS0027656 [T7]).

[20]           Auch wenn daher die Möglichkeit zum Aufenthalt und Spielen im Freien auch Kindern im Alter von vier Jahren erhalten bleiben muss, wenn es mit den Verkehrsverhältnissen nur irgendwie vereinbar ist (RS0027656), ergibt sich bereits aus dieser Rechtsprechung, dass es dafür – und auch für die Frage, welche Überwachung als ausreichend und zumutbar anzusehen ist – entscheidend auf die konkreten Umstände des jeweiligen Falles ankommt.

[21]           Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass der Aufenthalt eines Viereinhalbjährigen unmittelbar am Rand einer im Freiland gelegenen Fahrbahn, ohne dass ein Gehsteig vorhanden wäre, in einer für ihn offensichtlich aufregenden Situation der Beobachtung von Geschehnissen außerhalb der Fahrbahn, die noch dazu geeignet sind, sich unterhalb der Brücke – und nur vom anderen Fahrbahnrand einsehbar – fortzusetzen, kein Ort ist, an dem die Überwachung eines solchen Kleinkindes gelockert werden kann, ist völlig unbedenklich. Dass die Zweitbeklagte diesem Erfordernis nicht gerecht wurde, ergibt sich auch daraus, dass sie – wenn sie schon ihren kleinen Sohn nicht festhielt oder sich so positionierte, dass sie ihn am Weglaufen hindern konnte – den Radfahrer erst bemerkte, als ihr Sohn loslief, also dem Fahrzeugverkehr auf der Brücke auch selbst keine Aufmerksamkeit schenkte.

[22]           6. Letztlich ist auch in der von beiden Revisionswerbern bekämpften Verschuldensabwägung der Vorinstanzen keine vom Obersten Gerichtshof aufzugreifende Fehlbeurteilung zu erkennen. Grundsätzlich können die Beurteilung des Verschuldensgrads unter Anwendung der richtig dargestellten Grundsätze, ohne dass ein wesentlicher Verstoß gegen maßgebliche Abgrenzungskriterien vorläge, und das Ausmaß eines Mitverschuldens des Geschädigten wegen ihrer Einzelfallbezogenheit nicht als erhebliche Rechtsfrage iSd Paragraph 502, Absatz eins, ZPO gewertet werden (RS0087606).

[23]           Auch wenn hier die Zweitbeklagte direkt neben ihrem Sohn stand, woraus sie schließt, dass sie ihn unter ständiger Beobachtung hatte, war dies nicht ausreichend, um auf sein Weglaufen zeitgerecht zu reagieren. Angesichts der an den Betonsockel unmittelbar angrenzenden Fahrbahn kann darin nicht nur ein geringes Verschulden erkannt werden, sondern ist in der Anlastung eines Verschuldensausmaßes von zwei Dritteln im Verhältnis zum Verhalten des Klägers, der seine Geschwindigkeit zwar nicht der Anwesenheit von Kindern anpasste, aber immerhin auch eine erwachsene Person neben dem später unfallbeteiligten kleinen Kind sehen konnte, keine Fehlbeurteilung zu erkennen.

[24]           7. Die Kostenentscheidung beruht in Bezug auf die Zweitbeklagte auf Paragraphen 41, Absatz eins,, 50 Absatz eins, ZPO. Da sie in ihrer Revisionsbeantwortung auf die Unzulässigkeit des gegnerischen Rechtsmittels hingewiesen hat, diente ihr Schriftsatz der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung.

[25]     Dagegen hat der Kläger in seiner Revisionsbeantwortung nicht auf die Unzulässigkeit der Revision der Zweitbeklagten hingewiesen. Sein Schriftsatz diente daher nicht der zweckentsprechenden Rechtsverteidigung. Die Kostenentscheidung beruht daher insoweit auf Paragraphen 40,, 50 Absatz eins, ZPO.

Textnummer

E133840

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0020OB00180.21S.1214.000

Im RIS seit

16.02.2022

Zuletzt aktualisiert am

02.08.2023

Dokumentnummer

JJT_20211214_OGH0002_0020OB00180_21S0000_000

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