Navigation im Suchergebnis

Entscheidungstext 11Os9/13b

Gericht

OGH

Dokumenttyp

Entscheidungstext

Rechtsgebiet

Strafrecht

Fundstelle

EvBl 2013/56 S 374 - EvBl 2013,374 = Jus-Extra OGH-St 4729 = AnwBl 2013,474 = Ratz, AnwBl 2014,238 (Judikaturübersicht) = SSt 2013/1

Geschäftszahl

11Os9/13b

Entscheidungsdatum

24.01.2013

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 24. Jänner 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Schwab und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Niegl als Schriftführer, in der Strafsache gegen Mario U***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach Paragraph 206, Absatz eins, StGB, und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 12 HR 209/12p des Landesgerichts St. Pölten, über die Grundrechtsbeschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Beschwerdegericht vom 17. Dezember 2012, AZ 18 Bs 549/12k (ON 26 der HR-Akten), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Mario U***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt.

Der angefochtene Beschluss wird nicht aufgehoben.

Dem Bund wird der Ersatz der Beschwerdekosten von 800 Euro zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe:

Der Haft- und Rechtsschutzrichter des Landesgerichts St. Pölten verhängte am 16. November 2012 über Mario U***** die Untersuchungshaft wegen des Verdachts der Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach Paragraph 206, (richtig nur) Absatz eins, StGB und der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach Paragraph 212, Absatz eins, Ziffer eins, StGB aus den Haftgründen der Verdunkelungsgefahr sowie der Tatbegehungsgefahr nach Paragraph 173, Absatz 2, Ziffer 2,, Ziffer 3, Litera b, StPO (ON 10). Danach besteht gegen Mario U***** der dringende Verdacht, er habe in den Jahren 2002 bis 2009 in St. Pölten und anderen Orten in Österreich mit seiner am 10. November 1993 geborenen Stieftochter Stephanie B***** wiederholt analen, oralen und vaginalen Geschlechtsverkehr unternommen, indem ihn die zunächst (bis 10. November 2007) Unmündige oral und mit der Hand (soweit nicht tateinheitlich wohl Paragraph 207, Absatz eins, StGB) befriedigte sowie von ihm mit Penis, Vibrator und Finger vaginal und anal penetriert wurde.

In der Haftverhandlung vom 26. November 2012 (ON 16) wurde die Untersuchungshaft unter Anwendung gelinderer Mittel, nämlich der Weisungen, keinerlei Kontakt zu Dominik und Sarah R*****, den Kindern seiner derzeitigen Lebensgefährtin, aufzunehmen sowie deren Wohnsitz samt näherer Umgebung nicht zu betreten bzw zu meiden, aufgehoben (ON 18).

Der dagegen von der Staatsanwaltschaft St. Pölten am 29. November 2011 erhobenen Beschwerde (ON 22), die dem Beschuldigten (bzw seinem Vertreter) ebenso wenig zugestellt wurde wie die Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft Wien vom 13. Dezember 2012 (die sich inhaltlich den Erwägungen der Staatsanwaltschaft St. Pölten anschloss), gab das Oberlandesgericht Wien mit dem angefochtenen Beschluss vom 17. Dezember 2012 Folge, hob den bekämpften Beschluss des Landesgerichts St. Pölten auf und trug diesem die „Verhängung“ (richtig: Fortsetzung - vergleiche RIS-Justiz RS0097645, Kirchbacher/Rami, WK-StPO Paragraph 176, Rz 13) der Untersuchungshaft über Mario U***** gemäß Paragraph 173, Absatz 2, Ziffer 3, Litera b, StPO auf (ON 26).

Der am 26. November 2012 enthaftete Beschuldigte wurde am 29. Dezember 2012 wieder festgenommen (ON 33) und über ihn mit Beschluss vom 30. Dezember 2012 (ON 35) die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gemäß Paragraph 173, Absatz 2, Ziffer 3, Litera b, StPO „verhängt“ (zur Haftfrist vergleiche Kirchbacher/Rami, WK-StPO Paragraph 175, Rz 8, RIS-Justiz RS0097630).

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Wien vom 17. Dezember 2012, AZ 18 Bs 549/12k, ON 26 der HR-Akten, wurde dem Beschuldigten im Rahmen seiner Vernehmung am 30. Dezember 2012 ausgehändigt (ON 34 S 3) und seinem Verteidiger mit Verfügung vom 30. Dezember 2012 zugestellt (ON 1 S 12).

Rechtliche Beurteilung

Gegen den angeführten Beschluss des Oberlandesgerichts Wien richtet sich die am 3. Jänner 2013 eingebrachte Grundrechtsbeschwerde des Mario U***** (ON 39), mit der er den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien „zur Gänze“ anficht vergleiche zur Zulässigkeit RIS-Justiz RS0116263).

Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts führt der Beschwerdeführer aus, er hätte im Falle der Zustellung der Beschwerde sowie der dazu erstatteten Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft darlegen können, dass die Darstellung des Opfers wohl dessen „Fantasie entspricht“, auf eine geänderte familiäre Situation zurückzuführen sei, ein behaupteter Aufklärungsunterricht nicht stattgefunden habe und die inkriminierten Sexualkontakte von der Körperhaltung her nicht nachvollziehbar seien. Damit wird ein Begründungsmangel in der Bedeutung der Ziffer 5 und 5a des Paragraph 281, Absatz eins, StPO nicht aufgezeigt, sondern lediglich mit eigenen beweiswürdigenden Erwägungen die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage gestellt, worauf allerdings bei Erledigung einer Grundrechtsbeschwerde nicht einzugehen ist (RIS-Justiz RS0110146; Kier in WK² GRBG Paragraph 2, Rz 26 ff).

Der abstrakt gebliebenen Bestreitung des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr gemäß Paragraph 173, Absatz 2, Ziffer 3, Litera b, StPO ist entgegenzuhalten, dass die rechtliche Annahme einer der von Paragraph 173, Absatz 2, StPO genannten Gefahren im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens lediglich insoweit zu bekämpfen und zu überprüfen ist, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als unvertretbar angesehen werden müsste (RIS-Justiz RS0117806; Kier in WK² GRBG Paragraph 2, Rz 49 ff - eine solche Willkür wird indes in der allein dafür beachtlichen Grundrechtsbeschwerde nicht vorgebracht, vergleiche Kier in WK2 GRBG Paragraph 3, Rz 13, 16, 26).

Im Ergebnis zutreffend kritisiert die Grundrechtsbeschwerde hingegen die Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens ohne Gewährung rechtlichen Gehörs.

Gemäß Paragraph 89, Absatz 5, zweiter Satz StPO hat das Rechtsmittelgericht dem Gegner der Beschwerde grundsätzlich Gelegenheit zur Äußerung binnen sieben Tagen einzuräumen, also auch dem Beschuldigten bei einer Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss, mit dem die Untersuchungshaft aufgehoben wurde (Tipold, WK-StPO Paragraph 89, Rz 3). Die Stellungnahme einer (gegenständlich Ober-)Staatsanwaltschaft ist dem gegnerischen Beteiligten zur Äußerung binnen einer angemessen festzusetzenden Frist zuzustellen (Paragraph 24, StPO).

Von dieser Gewährung rechtlichen Gehörs vergleiche Paragraph 6, Absatz 2, 1. Satz StPO; RIS-Justiz RS0120050) darf im Beschwerdeverfahren nur abgesehen werden, wenn der Gegenstand der Beschwerde auf die Bewilligung einer Anordnung gerichtet ist, deren Erfolg voraussetzt, dass sie dem Gegner der Beschwerde vor ihrer Durchführung nicht bekannt wird (Paragraph 89, Absatz 5, zweiter Satz in Verbindung mit Absatz 2 a, Ziffer 4, StPO).

Das Oberlandesgericht hat mit dem bloßen Hinweis, eine Zustellung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der Stellungnahme der Oberstaatsanwaltschaft an den Beschuldigten hätte „im Hinblick auf Paragraph 89, Absatz 5, letzter Satz in Verbindung mit Absatz 2 a, Ziffer 4, StPO“ zu unterbleiben gehabt, das Vorliegen der Voraussetzungen dafür, dem Beschuldigten (ausnahmsweise) kein Äußerungsrecht einzuräumen, zwar offenbar bejaht, diese Annahme jedoch nicht begründet, sodass mangels Darlegung der dafür maßgeblichen Sachverhaltsgrundlage deren Überprüfung nicht möglich ist vergleiche neuerlich RIS-Justiz RS0117806).

Wird die Zustellung der Beschwerde der Staatsanwaltschaft und der dazu ergangenen Äußerung der Oberstaatsanwaltschaft vom Oberlandesgericht ohne nachvollziehbares Vorliegen der Voraussetzungen des Paragraph 89, Absatz 5, zweiter Satz in Verbindung mit Absatz 2 a, Ziffer 4, StPO unterlassen, ist von einer mit Grundrechtsbeschwerde aufgreifbaren Grundrechtsverletzung auszugehen, weil der Beschuldigte solcherart in seinem Recht, inhaltliche Gegenargumente zur Haftfrage vorzubringen und folglich in seinem Recht, dass die Freiheitsentziehung ausschließlich auf die im Gesetz vorgesehene Weise erfolgt, beschnitten wird, worin eine Verletzung nicht nur von Artikel 6,, sondern auch von Artikel 5, MRK zu erblicken ist vergleiche Kier in WK² GRBG Paragraph 2, Rz 113; nur auf Artikel 6, MRK abstellend RIS-Justiz RS0101055; Anhaltspunkte für sachbezogene Differenzierungen in EBRV 231 BlgNR römisch XXIII. GP, 5 [BGBl römisch eins 2007/93]).

Es war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur der Grundrechtsbeschwerde insofern stattzugeben und - jedoch ohne Aufhebung des angefochtenen Beschlusses (RIS-Justiz RS0119858, RS0112914; Kier in WK² GRBG Paragraph 7, Rz 6 ff) - auszusprechen, dass Mario U***** im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.

Durch die - im Fall des Paragraph 7, Absatz 2, GRGB mit der Feststellung einer Grundrechtsverletzung von Gesetzes wegen verbundene - Anordnung umgehend erneuter Haftprüfung (durch das Erstgericht im Rahmen einer Haftverhandlung) wird die Entscheidung einer kassatorischen Erledigung so weit wie möglich angenähert, um das Bemühen der Gerichte, einen Ausgleich für die festgestellte Grundrechtsverletzung zu finden, zu unterstreichen, dem Beschwerdeführer sohin die Erstattung umfassenden Vorbringens auch in Ansehung der Argumente der Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerde und der Oberstaatsanwaltschaft in der dazu erstatteten Äußerung zu ermöglichen und das Fortwirken der Grundrechtsverletzung zu unterbinden vergleiche RIS-Justiz RS0119858).

Die Kostenentscheidung beruht auf Paragraph 8, GRBG.

Schlagworte

Strafrecht,Grundrechtsbeschwerden

Textnummer

E103179

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2013:0110OS00009.13B.0124.000

Im RIS seit

06.03.2013

Zuletzt aktualisiert am

02.12.2015

Dokumentnummer

JJT_20130124_OGH0002_0110OS00009_13B0000_000

Navigation im Suchergebnis